
8
Alle starrten die kleine Frau überrascht an.
»Ach. Dann ist Chuan Ren also tot?«, fragte Gabriel höflich.
»Nein.« Bao warf den Kopf zurück. Sie hatte kurze, stachelige Haare und benahm sich auch so. »Sie bleibt in Abbadon. Ich habe die Sippe übernommen. Das ist Jian, ihr Sohn. Er wird euch sagen, dass sie mich als Wyvern einsetzen wollte für den Fall, dass ihr etwas passiert.«
Der große, schlaksige Mann neben ihr legte eine Hand auf seine Brust und verbeugte sich stumm vor Gabriel und mir. Wie mochte er sich wohl fühlen, wenn jemand die Nachfolge seiner Mutter antrat?
»Kommt mit, ich stelle euch den anderen vor«, sagte Gabriel.
»Es wird sie interessieren, von Chuan Ren zu hören. Wie geht es ihr in Abbadon?«
Bao warf den Kopf in den Nacken und trat vor Gabriel. »Das ist unwichtig. Ich regiere die Sippe jetzt, nicht Chuan Ben. Sie ist nicht mehr da, und ich möchte die anderen kennenlernen.«
Gabriel reichte mir die Hand, und wir gingen mit Bao zu Drake und Kostya hinüber. Ich warf einen Blick auf Jian, der seinem neuen Wyvern folgte. Fiat gesellte sich zu ihnen und umgarnte sie regelrecht.
»Müsste ihr Sohn nicht eigentlich der neue Wyvern sein?«, fragte ich Gabriel flüsternd.
»Nicht zwangsläufig«, erwiderte er und musterte Jian forschend. Seine Finger schlossen sich fester um meine Hand.
»Wyvern wird man nicht unbedingt durch Erbfolge, obwohl auch das nicht unüblich ist. Ich finde es erstaunlich, dass Chuan Ren noch ein lebendes Kind hat. Die anderen sind im Endlosen Krieg umgekommen.«
Jian stand mit gesenktem Kopf hinter der winzigen Bao. Er ist ein gut aussehender Mann, dachte ich, mit hohen Wangenknochen und ebenmäßigen Gesichtszügen. Wäre er ein Sterblicher gewesen, hätte er Model sein können. Er wirkte wie dreißig, was aber nichts heißen wollte - die meisten Wesen in der Anderwelt konnten ihre äußere Erscheinung beeinflussen und gaben sich ein Alter, in dem sie sich wohlfühlten. »Er sieht nicht allzu traurig aus über den Verlust seiner Mutter. Haben sie sich nicht nahegestanden?«
Gabriel lächelte. »Ich kenne mich mit den Roten Drachen nicht so gut aus, aber ich bezweifle aufrichtig, dass jemand behaupten könnte, er stünde Chuan Ren nahe. Aber es ist trotzdem interessant, da hast du recht.«
»Das sárkány kann jetzt beginnen«, verkündete Bao plötzlich und ließ sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches fallen.
Drake warf ihr einen Blick zu. »Der Weyr ist noch nicht vollständig. Wir können mit dem sárkány erst beginnen, wenn alle Wyvern anwesend sind.«
Bao sah ihn argwöhnisch an. »Du bist hier. Der silberne Wyvern ist hier. Ebenso der blaue und der schwarze Wyvern. Wieso ist der Weyr nicht vollständig?«
»Ja, wieso?«, mischte sich Fiat ein und nahm auf einem Stuhl an dem Tisch Platz. »Drake meint bestimmt diesen anstrengenden Verwandten von mir, der glaubt, die Herrschaft über meine Sippe übernehmen zu müssen. Aber da mein lieber Onkel Bastian nicht anwesend ist, um die Entscheidung des Weyr entgegenzunehmen, können wir wohl ohne ihn beginnen. Und da wir gerade von Angehörigen sprechen...« Er wandte sich an Drake. »Wo ist deine Gefährtin? Hat sie so wenig Respekt vor den Gesetzen des Weyr, dass sie es nicht für nötig hält, teilzunehmen?«
»Sie ist hochschwanger«, erwiderte Drake und stellte sich hinter den Stuhl am anderen Ende des Tisches. Seine beiden rothaarigen Bodyguards begleiteten ihn. »Sie wollte natürlich am sárkány teilnehmen, aber ihr Zustand erlaubt es ihr nicht, zu reisen. Du weißt ja, dass Frauen unter diesen Umständen von der Teilnahme an Sitzungen des Weyr befreit sind.«
Fiat lächelte ihn an. »Natürlich, wir wollen ja nicht, dass Aisling sich oder dein Kind in Gefahr bringt. Richte ihr doch bitte aus, dass ich an sie denke.«
Wenn Drake dies als Drohung interpretierte, so ließ er sich nichts anmerken. Gabriel seufzte leise, drückte meine Finger ein letztes Mal und trat an den letzten Stuhl, der noch frei war.
Wie Drake setzte auch er sich nicht hin. »Da dieses sárkány von Bastian einberufen worden ist, um über die Führung der blauen Sippe zu sprechen, ist es wohl in unser aller Interesse, auf ihn zu warten, statt ohne ihn anzufangen.«
»Er hat die Herausforderung nicht korrekt durchgeführt«, sagte Fiat. Obwohl er nach außen hin ruhig wirkte, hörte man seiner Stimme die Verärgerung an. »Sie ist deshalb ungültig. Ich bin der Wyvern meiner Sippe, und du kannst dich darauf verlassen, dass ich mit der Situation schon alleine fertig werde.«
»Wenn meine Herausforderung nicht den Regeln des Weyr entsprochen hat, so deshalb, weil dazu nicht die Notwendigkeit bestand«, rief ein Mann vom anderen Ende des Saals. Alle drehten sich zu ihm um, und viele der Drachen, die bei Fiats Eintreten nicht aufgestanden waren, erhoben sich jetzt, als der Mann den Gang hinunterkam. Am Ende schlossen sich ihm zwei Männer an, offensichtlich seine Leibwache.
Ich blinzelte ein paarmal ungläubig, als der Mann auf uns zukam. Anscheinend war dies Bastian, Fiats Onkel. Die beiden waren einander so ähnlich wie Cyrene und ich, und einen Moment lang fragte ich mich, ob er ein Doppelgänger war, von dem ich noch nie gehört hatte. Aber ich verwarf den Gedanken wieder, als der Mann näher kam und ich sah, dass sie nur große Ähnlichkeit miteinander hatten. Beide waren blond und sahen ungewöhnlich gut aus, aber Bastians Haare waren ein wenig dunkler als Fiats, und seine Locken fielen ihm bis auf die Schultern. Und im Gegensatz zu Fiats teurem, dunkelblauem Anzug trug Bastian ein leuchtend blaues Hemd mit Stehkragen und eine schwarze Lederhose.
»Lügen!«, knurrte Fiat und sprang auf. »Du willst dem Weyr deine Lügen vortragen, aber das werde ich nicht zulassen! Ich verlange vom Weyr, diesen Drachen zum Ouroboros zu erklären und ihn aus dem Saal entfernen zu lassen.«
»Du hast mich lieber gefangen gehalten, als dich mir in einer echten Herausforderung zu stellen«, erwiderte Bastian zornig.
»Ich muss dich nicht herausfordern, weil du die Position des Wyvern nicht rechtmäßig innegehabt hast. Pierozzo Blu hat mich zum Wyvern ernannt, nicht dich. Mich hat die Sippe akzeptiert, bis du dein Gift versprüht und die Mächtigen überzeugt hast, ich sei geisteskrank. Und damit sie die Wahrheit nicht erfuhren, hast du mich weggesperrt und meine Position übernommen. Aber ich werde nicht mehr schweigen und im Verborgenen bleiben, Fiat. Ich wurde vor Jahrhunderten zum Wyvern ernannt und bin gekommen, um mein Erbe anzutreten.«
Drake gab einem seiner Männer ein Zeichen. István ergriff einen der leeren Stühle, die an der Wand standen und stellte ihn neben Gabriel an den Tisch. »Dieser Weyr ist einberufen worden, um die Frage zu klären, wer der rechtmäßige Wyvern ist. Bis die Entscheidung gefallen ist, werdet ihr beide einen Platz an diesem Tisch haben.«
Fiat stieß ein Schimpfwort aus, setzte sich aber wieder. Seine Augen glitzerten gefährlich. Bastian zögerte einen Moment lang, nickte dann aber und nahm Platz. Gabriel winkte Tipene, und der Bodyguard stellte einen weiteren Stuhl auf die andere Seite von Gabriel. Er wartete, bis ich mich gesetzt hatte, dann nahm er Platz. Tipene und Maata stellten sich hinter uns.
»Wir sind jetzt alle anwesend«, sagte Gabriel mit seiner schönen Stimme und blickte in die Runde. »Da ich gebeten wurde, dieses sárkány zu leiten, eröffne ich hiermit die Sitzung.«
»Noch nicht«, widersprach Kostya, ergriff einen Stuhl und setzte sich neben Fiat. Seine Männer bauten sich hinter ihm auf, als er sich auf den Stuhl warf und herausfordernd um sich blickte. »Jetzt sind alle anwesend.«
»Hallo!« Cyrene klopfte ihm auf die Schulter. »Ich stehe noch.«
»Du scheinst deine Gefährtin vergessen zu haben«, sagte Fiat amüsiert.
»Ich habe sie nicht vergessen«, erwiderte Kostya ruhig. »Sie ist zwar nicht meine Gefährtin, aber ich habe sie nicht vergessen. Das kann man gar nicht.«
Cyrene keuchte und versetzte ihm erneut einen Schlag auf die Schulter. »Natürlich bin ich deine Gefährtin! Das hast du doch selbst gesagt!«
Seufzend stand Kostya auf. »Nein, ich habe gesagt, du könntest meine Gefährtin sein, da dein Zwilling die Gefährtin von Gabriel ist, aber ich habe nie behauptet, dass du es tatsächlich bist. Ich habe nur... äh... die Möglichkeit angesprochen.«
»Bin ich es nun, oder bin ich es nicht?« Cyrene stemmte die Hände in die Hüften. Sie hatte ein gefährliches Glitzern in den Augen, und ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis Kostya es bemerkte. Aber anscheinend war es ihm auch bereits aufgefallen, denn er ergriff ihre Hände und flüsterte ihr etwas ins Ohr, was sie offensichtlich beruhigte.
»Das ist nicht in Ordnung«, flüsterte ich Gabriel zu. »Er führt sie an der Nase herum.«
»Ja, aber das ist seine Sache. Mit dem Weyr hat das nichts zu tun.«
»Nein, aber für mich ist es wichtig.« Ich holte tief Luft und stand auf. »Ich lasse nicht zu, dass Kostya ein Spiel treibt, das nur böse enden kann. Cyrene, es tut mir leid, aber du bist nicht Kostyas Gefährtin. Du bist überhaupt keine Drachengefährtin.«
»Oh«, rief sie empört. »Wie kannst du es wagen, so etwas zu mir zu sagen! Wenn du nicht selbst einen Drachen hättest, würde ich sagen, du bist neidisch.«
»Nun, ich habe aber einen, und ich bin nicht neidisch. Cy, ich habe dich noch nie angelogen, und ich lüge auch jetzt nicht. Du bist keine Drachengefährtin, das hat Gabriel letzten Monat doch klargestellt.«
»Es tut mir leid«, warf Gabriel ein. »Aber May hat recht.«
»Aber... aber...« Cyrene warf Kostya einen betrübten Blick zu.
»Du kannst mit Drachenfeuer nicht umgehen«, fuhr Gabriel fort. »Du verträgst es noch nicht einmal. Aber eine Drachengefährtin kann das, vor allem die eines Wyvern. Und außerdem spürt niemand von uns bei dir andere Merkmale einer Gefährtin.« Er warf einen Blick in die Runde. Alle anwesenden Drachen schüttelten den Kopf. Eine wahre Flut von Gefühlen spiegelte sich auf Cyrenes Gesicht wider. Wut, Entsetzen und Kummer wichen jedoch schließlich einem Ausdruck der Entschlossenheit. Ich sank auf meinen Stuhl zurück.
»Sagst du ihr bitte die Wahrheit?«, forderte ich Kostya auf.
Er räusperte sich und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, es kamen jedoch nur hilflose Laute heraus. Ich schüttelte den Kopf. »Warum lässt du sie in dem Glauben, sie sei deine Gefährtin?«
Verlegen machte er eine unbeholfene Geste. »Es ist... äh... kompliziert. Sie ist... sie ist...«
»Ich bin eben gut im Bett«, verkündete Cyrene freiheraus.
Sie wirkte zu allem entschlossen. »Das weißt du ja. Nun, natürlich nicht, weil du mir zugeschaut hättest, sondern weil du mein Zwilling bist, und wenn ich etwas gut kann, dann trifft das auf dich auch zu. Das nehme ich zumindest an.« Sie wandte sich an Gabriel. »Ist May...«
»Wag es ja nicht, diese Frage zu stellen!«, unterbrach ich sie und bedachte sie mit einem zornigen Blick. Sie ignorierte mich, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt war, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie die geeignete Partnerin für Kostya war. »Körperliche Kompatibilität ist sehr wichtig. Unterschätz das nie, Mayling. Außerdem ist Kostya wohl schrecklich in mich verliebt. Deshalb will er mich als Gefährtin, auch wenn ich theoretisch nicht in der Lage bin, diese Position auszufüllen.« Sie hängte sich an seinen Arm und warf ihm einen Blick zu, für den ich sie am liebsten geschüttelt hätte. »Ach, es ist so romantisch, ich könnte dahinschmelzen. Oh, Kostya! Ich wusste ja, dass wir gut zusammenpassen, aber ich hatte keine Ahnung, dass ich dir so viel bedeute!«
Kostya setzte sich. Er verzog das Gesicht in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Resignation. Cyrene ließ sich in Ermangelung eines Stuhls einfach auf seinen Schoß plumpsen und lächelte strahlend in die Runde.
Ich seufzte leise. Es sah so aus, als ob ich auf diesen Tag gut verzichten könnte.